„Joker“ ist der Film des Jahres - und hat mit Joaquin Phoenix nicht nur den oscarprämierten Darsteller aufzubieten, sondern gleich auch einen 180-Grad-Wechsel im Genre der Comicverfilmungen.
Am Ende einer langen Reise stand: Der Oscar. Das ahnten Insider freilich schon, als sie Joaquin Phoenix das allererste Mal auf der Leinwand sahen, in der Rolle des Joker, beim Filmfestival von Venedig. Schnell war klar: Diese Performance wird in der Awards-Season von niemandem zu schlagen sein.
Und weil dieser Oscar-Gewinn so sicher schien, nutzte Phoenix ihn auch gleich für seine ganz persönliche Message an die Leute da draußen: „Wir sprechen über den Kampf gegen die Ungerechtigkeit. Viele Menschen sind weit von der Natur entfernt. Viele von uns glauben, wir sind das Zentrum des Universums. Wir nehmen einer Kuh ihr Baby weg und melken ihre Milch, damit wir sie in den Kaffee geben können“, so Phoenix, ein bekennender Veganer. Das Oscarbuffet von Star-Koch Wolfgang Puck war dann nachher auch tatsächlich zu 70 Prozent vegan.
Aber zurück zum Film: Ein großartiges Werk und ein großartiger Schauspieler, dieser Joaquin Phoenix. Worum geht es eigentlich? Sein Lachen klingt wie ein großer Schmerz, wie ein Hilfeschrei. Wenn Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) in seiner ganzen psychischen Instabilität die Mundwinkel nach oben zieht und schallend-künstliche Lachlaute ausstößt, dann gerät seine Umwelt ins Grübeln, selbst seine Therapeutin kann diesem menschlichen Wrack nicht mehr folgen. „Haben Sie manchmal negative Gedanken?“, fragt sie ihn. „Ich habe ausschließlich negative Gedanken“, antwortet Fleck. Das Grinsen ist nur die Fassade vor dem seelischen Abgrund.
Der Joker, 1940 als Batmans Erzfeind erstmals in den DC-Comicheften aufgetreten, ist eine Ikone der Comic-Kultur, das personifizierte Böse, das jede Schandtat brutal weglächelt und keinerlei Skrupel kennt. Todd Phillips, bisher eher für Komödien im Format der „Hangover“-Filme bekannt, forscht in „Joker“ nun an der Genese dieses Prototypen des Bösen und enthebt den Schurken zugleich der Einbettung in jeden Kontext zum Superhelden Batman; „Joker“ ist ein eigenständiger Film, der außerhalb des DC-Universums steht, in dem zuletzt Helden wie Aquaman oder Wonder Woman auftraten.
„Joker“ ist kein Superheldenfilm und auch kein Film über einen Antagonisten, sondern eine Charakterstudie eines gebrochenen Mannes. Darob schildert der Film auch in keiner Weise die Geschichte des Comic-Joker und seine Werdung, sondern entwirft lediglich das Muster eines Antihelden, das der wahre Joker später kopieren wird. Es klingt komplizierter, als es ist, aber Zuschauer, die mit dem Batman-Universum vertraut sind, lockt der Film zunächst auf eine falsche Fährte, klärt dann aber kurz vor Schluss alles auf.
Wer ist er nun, dieser Arthur Fleck? Ein auffallend hagerer, in sich gekehrter Mann, der sich als mietbarer Clown über Wasser hält, aber allerorts bloß verspottet wird; er lebt noch immer bei seiner Mutter, die ein dunkles Geheimnis mit sich trägt, auf das er erst im Laufe des Films stößt. Das Psychogramm dieses Mannes steht im Zentrum des Films, er schildert die Gefühlswelt eines werdenden Killers, der von klein auf darauf getrimmt wurde, das Haus niemals ohne ein Lächeln zu verlassen - und das gerade in einem sozialen Umfeld, in dem es eigentlich gar nichts zu lachen gibt.
Regisseur Todd Phillips platziert seine Geschichte vom Unterschichten-Außenseiter vor dem Hintergrund beginnender sozialer Unruhen in diesem Gotham City, die Fleck zufälligerweise selbst auslöst, und in Neuwahl-Zeiten, in denen sich ein gewisser Thomas Wayne, Vater von Bruce Wayne (dem späteren Batman), zum Bürgermeister wählen lassen will. Fleck quält sein Traum von einer Karriere als Stand-up-Comedian und von einem Besuch in der Late-Night-Show von Murray Franklin (Robert de Niro).
Franklin wird auf Fleck aufmerksam, als dieser einen Auftritt vor wenig begeistertem Publikum absolviert: „Früher haben alle gelacht, als ich sagte, ich werde Comedian. Das ist heute nicht mehr so“, wettert Fleck von der Bühne, und bietet Franklin damit die Steilvorlage, ihn vor einem Millionenpublikum auszulachen. Die Demütigung führt schließlich zur Einladung Flecks in die Sendung, aber hier wird nichts so laufen wie geplant. Denn Arthur steckt schon länger in seiner Abwärtsspirale aus Angst und Selbsthass, und als ihm ein Kollege einen Revolver überlässt, nehmen die Dinge ihren Lauf.
„Der Film hat nichts Politisches“, beteuert Phillips. „Oder zumindest nichts absichtlich Politisches. Es kommt immer darauf an, durch welche Brille man ihn sieht. Jeder kann natürlich hineininterpretieren, was er möchte“. Und Joaquin Phoenix sagt, die Verrücktheit seiner Figur sei nirgends in der Comicliteratur explizit erklärt. „Deshalb haben wir uns die Freiheit genommen, die Figur von Grund auf neu zu ergründen. Das war für mich ein sehr intensiver Prozess“, so Phoenix.
„Joker“ ist gänzlich neu im Genre der Comicverfilmungen. Er richtet sich an ein mündiges Publikum, das die Vielschichtigkeit des von Joaquin Phoenix meisterhaft interpretierten Titelhelden lesen kann. Insgesamt definiert diese Comicverfilmung das gesamte Genre neu. „Joker“ ist ein Meilenstein des Mainstream, auch, weil Phillips sich traut, mit den Konventionen und Regeln des Blockbusterkinos zu brechen und daraus einen hocheffektiven Thriller generiert, der an den Look früher Scorsese-Filme aus den 70ern erinnert. Das Ergebnis ist schlicht atemberaubend: Nach „Joker“ ist in der Welt des Comicgenres nichts mehr, wie es war.